
tec.news: DC-INDUSTRIE ist ein vom ZVEI initiiertes Projekt, das die Nutzung von Gleichstrom im industriellen Umfeld voranbringen soll. Gemeinsam mit Partnern engagiert sich auch Harting bei diesem Projekt. Können Sie kurz den Inhalt des Projekts beschreiben und erläutern, welche Bedeutung Sie dem Projekt beimessen?
N. Gemmeke:
Das Projekt DC-INDUSTRIE basiert auf dem Grünbuch der Bundesregierung, das die vorrangige Umsetzung von Energiesparmaßnahmen und damit den Dekarbonisierungseffekt der erneuerbaren Energien einfordert. Anfangs standen die Anpassung und Erprobung von leistungselektronischen Geräten für die Versorgung ebenso wie das Schützen von DC-Netzen in Produktionszellen im Vordergrund. Aufbauend darauf zielt DC-INDUSTRIE2 auf die intelligente Kopplung der DC-Netze für Produktionshallen oder prozesstechnische Großanlagen. Die besonderen Herausforderungen liegen in dem Zusammenspiel passender Komponenten und Betriebsmittel.
Wir arbeiten mit im Projekt DC-INDUSTRIE, weil wir ein erhebliches Einsparpotenzial an Energie und Materialeinsatz sehen und von der Trendwirkung dieser Technologie für einen sinkenden Energieverbrauch überzeugt sind. Vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung dieser Technologie für die Nachhaltigkeit hat dieses Thema die höchste Aufmerksamkeit der Geschäftsführung.
tec.news: Im Bereich AC ist normales Stecken und Ziehen von Steckverbindern meist ohne Schaden für Prozesse möglich, bei Gleichstrom wird das nicht mehr so einfach sein. Was bringt die Betreiber von Industrieanlagen trotzdem dazu, nach Alternativen zu AC-Lösungen zu suchen?
N. Gemmeke:
Der Schaden, der „bei nicht sachgemäßem Gebrauch“, also beim Ziehen und Stecken unter Last entsteht, ist bei AC und DC nicht zu unterschätzen. Das bezieht sich immer auf drei Aspekte: An erster Stelle steht der Personenschutz, gefolgt von dem Bauteil- und Anlagenschutz.
In der Energieversorgung werden die erneuerbaren Energien immer wichtiger. Diese Energieformen sind maßgeblich DC-geprägt. Hinzu kommt das erwähnte Ziel der Energieeinsparung: Bei Einsatz regenerativer Energien entfallen die AC/DC-Konvertierungsverluste. In Kombination mit den Maßnahmen zur Energierückgewinnung führen sie zu einer insgesamt sinkenden Energieaufnahme aus dem AC-Netz. Das Unternehmen spart Energiekosten und trägt zur Erfüllung von CO2-Emissionsvorgaben bei. Weiterhin können Stromabnahmespitzen durch Einsatz von Energiespeichern reduziert werden, womit sich wiederum Kosten einsparen lassen. In Teilen der Welt, wo Netzausfälle von über 3 Sekunden häufiger vorkommen, bietet eine DC-Infrastruktur mit Energiespeichern die Möglichkeit, Ausfälle zu überbrücken.
tec.news: Was ist Stand der Technik bei Gleichstromschnittstellen? Welche technischen und systemischen Besonderheiten sind zu beachten?
N. Gemmeke:
Für den durchgängigen Einsatz von Gleichstrom brauchen wir ein normiertes Steckgesicht, da es sich um eine Infrastruktur handelt, die universell einsetzbar sein wird. Entscheidend für die Akzeptanz von DC-Anwendungen ist, dass sie sich sicher stecken und ziehen lassen. Das kann über eine autonome Verriegelung im Steckverbinder geschehen oder durch die Integration in die Steuerung der Anlagentechnik. Alternative wäre eine Edge/Cloud-Lösung. In den Arbeitskreisen der DC-INDUSTRIE wurden hierzu vier unterschiedliche Entriegelungsstufen vorgesehen. In dieser Aufgabenstellung arbeiten wir sehr eng mit der Firma Perinet zusammen. Es ergeben sich gute Synergien in Bezug auf die Elektronik, die Verarbeitung von Daten im Steckverbinder und die intelligente Anbindung an Smart Factory-Ansätze.
"Entscheidend für die Akzeptanz von DC-Anwendungen ist, dass sie sich sicher stecken und ziehen lassen."
tec.news: Die Verteilung von Power innerhalb und außerhalb des Schaltschranks ist eine Kernkompetenz von HARTING. Welche konkreten Aufgaben hat HARTING innerhalb des Projektes übernommen?
N. Gemmeke:
HARTING ist assoziierter Partner des aus 40 Industriepartnern bestehenden Verbundprojektes. Wir engagieren uns in Arbeitsgruppen sowie in den Teilprojekten Gesamtkonzeption, Energiemanagement und Schutzmaßnahmen. Hier gibt es Schwerpunkte wie Schnittstellen für DC-Abzweige, Selektivität, Isolationsüberwachung und Alterungsverhalten von Isolierstoffen. Aus Letzterem ergeben sich dann zentrale Anforderungen für künftige Schnittstellen.
tec.news: Während einer Presseveranstaltung haben Sie einen Steckverbinder für DC-Technologie angekündigt. Welche technischen Anforderungen haben Sie bei der Entwicklung dieses Steckverbinders berücksichtigt?
N. Gemmeke:
Wir entwickeln unsere Steckverbinder aufgrund von Anforderungen aus den Märkten. HARTING ist Spezialist für schwere Steckverbinder. Vor diesem Hintergrund sehen wir derzeit zwei mögliche Ausführungen einer DC-Schnittstelle. Sie unterscheiden sich sowohl in der Ausprägung der Steckgesichter als auch in der Steuerung, die den Verbinder zum Stecken und Ziehen freigibt. In der ersten Version sind Kontakte für die DC/AC-Versorgung und die Ethernet-Kommunikation vorgesehen. In der zweiten Version sind Kontakte für die DC/AC-Versorgung, Signale, Ethernet-Kommunikation und Pneumatik sowie für die Anbindung der Freigabe von Sensorik/Aktorik an eine Steuerung vorgesehen. Beide Lösungen bieten im erforderlichen Umfang Sicherheit und Schutz, sowohl personen- als auch sachbezogen.

tec.news: Was kann man über die Lösungen bzw. Ansätze von HARTING sagen? Sie sprachen von Prototypen, die eine Kommunikation mit SPS oder Cloud aufbauen. Würden Sie die Lösungen im Einzelnen beschreiben?
N. Gemmeke:
Im Anbaugehäuse sind mehrere Sensoren und Aktoren für die Verriegelung und Bedienung eingesetzt. In zwei Design-Studien werden Sensorik und Aktorik unterschiedlich in die Kommunikation eingebunden. In einer Version wird die Freigabe für das Stecken und Ziehen des Steckverbinders über eine SPS gesteuert und mit der übergeordneten IT-Ebene kommuniziert.
In der zweiten Lösung wurde die Steuerung des Steckverbinders direkt in Form einer kleinen Elektronik integriert, die über einen einfachen Ethernet-basierten Anschluss kommuniziert. Der Vorteil der integrierten Variante liegt in der nahtlosen Einbindung in die IT-basierte übergeordnete Steuerung („Factory Cloud“) per IP-basierter Kommunikation. Die Anwendungsfälle Stecken und Ziehen sind „Operationen“ im Zuge der Umrüstung einer Maschine oder eines Maschinenteils. Diese zweite Lösung kann den Aufwand deutlich reduzieren. Zudem ist die wesentlichste Sicherheitsfunktion Verriegelung unter Last in dieser Variante vollständig im Steckverbinder integriert.
Beide Ansätze befinden sich noch im Prototypenstatus und stehen für erste Anwendungen in DC-Anlagen zur Verfügung.
tec.news: Im Oktober letzten Jahres wurde das Forschungsprojekt DC-INDUSTRIE2 gestartet. Das Gleichstromnetz soll zu einem intelligenten DC-Netz für eine Produktionshalle ausgeweitet werden. In welchen Zeiträumen könnten Anwendungen realisiert sein?
N. Gemmeke:
DC-INDUSTRIE2 läuft bis 2022 und bezieht eine Reihe von Modellanlagen mit ein. Schwerpunkte liegen auf dem Nutzen für das Netz, auf der Modularität sowie der räumlichen Ausdehnung der Infrastruktur über ganze Fabriken. Die Erstellung von Spezifikationen ist dabei eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung von DC-Anwendungen. Die zweite Projektphase widmet sich einer möglichen intelligenten Versorgung auf der Grundlage von Industrie 4.0 und Maßnahmen zur Energieeffizienz. Entscheidend sind die einfache Anbindung der erneuerbaren Energiequellen und der flexible Einsatz von Energie. Normierung und Standardisierung müssen miteinander einhergehen.
Spezifikationen und Konzepte werden in Modellanlagen getestet. Anwendungen im Sinne von einsetzbaren Serienbauteilen werden, je nach Projektfortschritt, 2023 vorliegen.
